Kapitel 4 Malea wachte früh auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, nur der Himmel färbte sich am Horizont grau und rosa. Malea wusste, dass sie geträumt hatte, aber dennoch war ihr die Gefahr bewusst, in die sie die Katzen und Löwen brachte. Falls sie in absehbarer Zeit die große Buche wiederfinden würden und Malea zurück nach Hause könnte, dürfte sie auf keinen Fall auch nur ein Wort über diese Welt verlieren. Sie stand auf und ging ein Stück in Richtung einer Felsgruppe. Der feine Sand auf dem trockenen Savannenboden wurde mit jedem von Maleas Schritten etwas aufgewirbelt. "Malea!" Lune kam angelaufen. Als sie Malea erreichte, drosselte sie ihr Tempo und lief langsam neben ihr her. "Ist was? Du siehst so traurig aus.", meinte Lune. Malea lächelte schwach. "Ich habe schlecht geträumt. Jetzt ist mir gerade bewusst geworden, dass ich nie jemandem von diesem Ort hier erzählen darf. Ich bringe euch nur in Gefahr." Sie hatten die Felsgruppe erreicht und Malea setzte sich auf einen der warmen, grauen Steine. Lune rieb ihren Kopf an Maleas Bein. "Nein, du bringst uns nicht in Gefahr. Wir sind alle froh, dass du hier bist. Bisher ist doch noch nichts Schlimmes passiert. Mach dir keine Sorgen." Doch das überzeugte Malea nicht. "Was, wenn Hats recht hat? Wenn ich diejenige aus der Saga Lune bin, die euren ganzen Stamm zerstört?" Die Sonne zeigte sich schon vorsichtig am Horizont. Malea seufzte und stand auf. Dann machte sie sich mit Lune auf den Heimweg. Nach einigen Stunden Fußweg kamen sie am Ende der Steppenlandschaft an. Malea fühlte sich wohl im kühlen Schatten der Bäume. Obwohl die Sonne sie nicht wärmte -sie war gerade aufgegangen-, hatte Malea sich gefühlt, als hätte sie Fieber. In der leichten Dunkelheit des Waldes kühlte ihr Kopf langsam ab und Malea genoss den Weg bis zur nächsten Lichtung. Dort setzte sie sich mit Lune auf einen umgefallenen Baum und sie verschnauften eine Weile. Schon nach kurzer Zeit drängte Lune zum Weitergehen. Malea pflückte ein paar Blumen und riss ein wenig Gras aus, dann lief sie hinter Lune her, immer weiter in den Wald. Der Weg, der vor ihnen lag, war weit und Malea würde etwas brauchen, das sie an die Zeit bei den Löwen erinnert. Drei Tage lang wanderten Malea und Lune durch Wald und Wiesen. Nachts schliefen sie auf Moospolstern oder in bequemen Bäumen. Die Zeit mit Lune war lustig und Malea hatte viele Anlässe zum Lachen, weil Lune manchmal auf Bäumen posierte oder sich mit einem Fauchen ins Gras warf, nur um drei Sekunden später wieder aufzutauchen und weiterzulaufen. Trotzdem machte sich das Laufen bemerkbar und Malea war froh, als sie endlich wieder die vertrauten Gerüche und Stimmen des Katzenstammes wahrnahm. Es war schon später Abend, als die Katze und das Mädchen ihr Zuhause erreichten. Malea ging sofort zu ihrem Schlafplatz und legte sich hin. Aber schlafen konnte sie nicht. Das leise Geräusch tapsender Pfoten hielt sie wach. Aufmerksam versuchte Malea, die Schritte einer der ihr bekannten Katzen zuzuordnen. Nach einigen Vermutungen setzte sie sich auf und schaute sich um. In etwa fünf Metern Entfernung lief eine winzig kleine Katze mit schwarzem Kopf und sonst weißem Fell um einen dicken Baum herum. Als Malea ihre Decke zurückschlug und aufstand, drehte die kleine Katze sich zu ihr um. Malea traf fast der Schlag. Die Augen des kleinen Wesens waren weißblau und trüb. "Hey, kleines! Psst! Komm mal her.", flüsterte Malea. Die Katze reckte den Kopf in die Höhe und schaute sich nach allen Seiten um. Schließlich wandte sie ihr Gesicht in Maleas Richtung und begann, unsicher loszulaufen. Malea krabbelte ihr entgegen und hielt ihr zur Begrüßung die Hand hin. Die kleine Katze schnupperte aufgeregt daran und stupste dann mit ihrem Kopf dagegen. "Du musst der Monch sein. Hats hat mir von dir erzählt." Sie blieb mit dem Kopf immer in Berührung mit Maleas Hand. Malea musste lachen. "Ja, ich bin der Monch. Ich war mit Lune unterwegs bei Verwandten von euch. Wer bist du denn? Ich hab dich noch nie gesehen." Die kleine Katze setzte sich hin. "Ich heiße Taia. Ich bin erst zwei Wochen alt. Bis vor zwei Tagen durfte ich nicht herumlaufen. Weißt du, ich kann nicht sehen. Und deshalb gibt meine Mutter umso mehr Acht auf mich. Aber ich bin ja trotzdem in der Lage zu leben wie meine Geschwister und ihre Freunde." Malea nahm Taia vorsichtig auf den Arm und legte sie neben ihrem Kissen auf die 'Matratze' aus Heidekraut. "Natürlich bist du dazu in der Lage, Taia. Aber jetzt solltest du mal schlafen, meine Kleine. Hier, damit du weich liegst. Gute Nacht!" Malea legte sich hin und schlief schnell ein. *** Von den Strahlen der frühen Morgensonne geweckt, stand Malea auf und schaute sich nach Lune um. Sie wollte ihr unbedingt von der kleinen Taia erzählen, die leise schnurrend neben Maleas Kopfkissen schlief. Doch vorher schlug Malea einen schmalen Trampelpfad in den Wald ein und ging zu dem kleinen Bach, der plätschernd über flache Steine floss. Dort wusch sie sich kurz und säuberte auch ihre Kleider. Glücklicherweise war es sehr warm, sodass die Kleider schnell trockneten und Malea sie nach kurzer Zeit wieder anziehen konnte. Als sie aus dem Wald heraustrat, war schon die Hälfte der Katzen wach und lief geschäftig oder verschlafen zwischen den Bäumen umher. Malea entdeckte Lune, die gerade links von ihr von einem Baum heruntersprang. "Lune! Guten Morgen!", rief sie und winkte Lune zu. Diese kam Malea entgegengelaufen und sprang auf ihre Schulter. "Morgen, Malea! Hast du gut geschlafen?", erkundigte sie sich in einem höflichen Tonfall. "Ach, das interessiert dich doch nicht ernsthaft, oder? Ich hab gut geschlafen." lachte Malea. Dann fiel ihr die kleine Katze vom vergangenen Abend wieder ein und sie tippte Lune aufgeregt an. "Kennst du eine Taia?", fragte sie und begann, langsam zum Sammelplatz der Katzen zu gehen. Lune überlegte "Nicht dass ich wüsste...". Sie legte sich quer über Maleas Schultern, um einen besseren Halt zu haben. "Obwohl... doch! Ist sie blind?", fragte sie. Malea nickte. "Gestern Abend ist sie um den dicken Baum am Fußende meines Bettes gelaufen. Ich hab dann kurz mit ihr geredet und sie dann neben meinem Kopfkissen zum Schlafen hingelegt." Sie lächelte. "Taia ist echt ein niedliches Tier. Sie tut mir so leid, weil sie ja nichts sieht. Ist es nicht unglaublich schwer, ohne Sicht zu leben?" Lune lachte leise. "Ach, Malea weißt du! Wir haben einen so guten Geruchssinn und ein so gutes Gehör, dass wir auch ganz gut ohne die Augen leben können. Taia ist begabt, sie lernt das schon." Sie sprang von Maleas Schultern und blieb vor einem Strauch mit schwarzen Beeren stehen. "Kann man die essen?", fragte sie. Malea kniete sich vor den Strauch und pflückte eine der Beeren. Dann zerriss sie die Beere. Der Saft, der an Maleas Finger hinunterlief, war dunkelrot und roch nach Johannisbeeren. "Ich glaube, das sind schwarze Johannisbeeren. Sie sollten essbar sein.", antwortete sie. Lune schnappte mit den Zähnen nach einem Bündel Beeren und kaute darauf herum. "Schmeckt sauer, aber gut!", meinte sie, nachdem sie die Beeren runtergeschluckt hatte. Malea lächelte unsicher. "Ich hoffe, sie waren nicht giftig. Wenn ich mich vertan habe?", fragte sie besorgt. Lune leckte sich die Schnauze. "Ach was! Das ist lecker Fresschen!" Die beiden trafen am Sammelplatz ein und schon nach ein paar Minuten war auch der Rest der Katzen dort versammelt. Hats begrüßte die Katzen, es gab Frühstück und die Katzen redeten und lachten. Nach dem Essen stimmten sie wieder ihr vielstimmiges Lied an. Diesmal wagte auch Malea, mitzusingen. Ganz leise flocht sie eine zarte Melodie in das Netz aus Stimmen ein. Lune neben ihr lächelte und schaute Malea bewundernd an. Als das Lied fertig war, konnte sie sich nicht mehr halten. "Boah, Malea! Du hast schon deine Stimme gefunden! Das ging ja schnell!" Malea erwiderte: "Ich weiß nicht, woher ich wusste, was ich singen muss. Ich habe es einfach gespürt und nicht darüber nachgedacht. Aber es hat sich gut angefühlt. Ich habe gemerkt, dass ich Teil eures Stammes bin. Ein Teil eines großen Ganzen." Sie schaute die Katzen an und merkte, dass auch diese sie beobachteten. Ein paar Meter entfernt entdeckte sie die kleine Taia, die als einzige in eine andere Richtung sah. Entschuldigend zuckte Malea mit den Schultern und die Katzen wendeten sich wieder ihren alltäglichen Aktivitäten zu. Auch Malea bekam ein paar Aufgaben zugeteilt. Sie sollte Decken weben und Netze flechten. Die Arbeit machte Spaß und Malea arbeitete schnell. Im Laufe von zwei Wochen hatte sie Decken für alle Katzen und sechs Netze. Die Katzen würdigten Maleas Arbeit und waren froh, jemanden mit geschickten Fingern für solche Aufgaben zu haben. Viel zu spät merkten sie, wie die Saga Lune begann, sich zu erfüllen. Eines Abends kamen die Jäger gerade von der Jagd zurück, als ihnen eine orange getigerte Katze mit besorgtem Gesichtsausdruck entgegenkam. "Kommt schnell mit, bitte! Mein kleiner Nami verhält sich ganz eigenartig!" Sie lief zwischen Maleas Schlafplatz und einer kleinen Baumgruppe hindurch und verschwand hinter einem Rosenbusch. Ein paar der Jäger rannten sofort hinterher, andere verständigten Hats und die restlichen Katzen. Malea saß am Flussufer und wusch die Decken, als sie von einer dünnen, blauschwarzen Katze gebeten wurde, ihr zu folgen. Sie warf die Decken ins Gras und rannte hinter der Katze her. An dem Rosenbusch angekommen traf sie auf die anderen Katzen, die mit besorgtem Gesicht auf ein Fellbündel blickten, das auf dem Boden lag. Malea schaute sich das Wesen genauer an und erkannte einen Kater, der ihr zwei Tage vorher eine wunderschöne Blume gezeigt hatte. Er hatte gesagt: "Die Blume erinnert mich an meine Schwester. Sie ist schön und zart und dennoch trotzt sie jedem Wetter. Meine Schwester war auch immer stark. Aber dann kam der Winter und sie war krank..." Malea strich mit der Hand über das schweißnasse Fell des Katers. "Nami, schau mich an! Was hast du?" Malea bekam eine Gänsehaut. Falls sie wirklich schon zwei Monate hier war, wusste sie, was Nami hatte. Die Saga Lune wurde Wirklichkeit. Schweigend hob sie den Kater auf ihren Arm und streichelte sanft seinen Kopf. "Hör mir zu, Nami. Es tut mir so schrecklich leid, dass ich hier bin. Du kannst nichts dafür, aber du wirst gleich einschlafen. Kennst du die Saga Lune? Ich bin das Wesen und du das erste Opfer. Es tut mir echt leid, aber ich kann nichts dafür. Bitte denk daran, dass wir bei dir sind. Du musst jetzt nichts tun. Denk an den schönsten Ort, den du dir vorstellen kannst. Stell dir vor, du wärst dort. Nami, warte dort auf deine Familie und such nach deiner Schwester. Du bist nicht alleine. Lass dich los, mein Kleiner. Schlaf gut, ich wünsche dir eine gute Reise." Malea spürte, wie der kleine Körper in ihren Armen sich entspannte und das Köpfchen auf ihr Handgelenk sank. Friedlich war Namis Gesicht, als er den Weg in das Land nach dem Tod antrat. Malea spürte ein Ziehen in ihrem Herzen und wusste, dass ein Teil von ihr selbst Nami auf diesem eg begleiten würde. Sie hielt den kleinen Kater noch eine Weile fest und ließ den Tränen freien Lauf. Als sie den Kopf hob, sah sie durch einen von Tränen verschleierten Blick, wie auch die Katzen des Stammes um ihren kleinen Nami weinten.