Kapitel 3 Malea wurde von der leisen Stimme einer Katze geweckt. "Nein, lass sie noch etwas in Ruhe. Sie hat sicherlich viel Stress ertragen müssen. Nicht jeder begegnet dir unter solchen Umständen." - "Welchen Umständen?" Das war Lunes Stimme. Malea richtete sich langsam auf, ihr Rücken tat weh. Der Boden ihres Nachtlagers war ziemlich hart gewesen. Malea sah nach, was ihr in der vergangenen Nacht als Wärmespeicher gedient hatte. Zu ihrem Erstaunen war es eine stabile Decke aus Flachsfasern und Gras. Vielleicht war ich doch nicht der erste Mensch hier... Die ältere Katze kam auf Malea zu. "Guten Morgen. Ich hoffe, du bist ausgeschlafen. Hast du Hunger?" Darüber musste Malea erst mal nachdenken. Na ja, wenn es keine Mäuse sind... dann schon. "Gerne, aber ich esse kein Fleisch." Sie überlegte, was es wohl außer Fleisch sonst bei Katzen zu essen geben würde. Die beiden Katzen wechselten einen unergründlichen Blick, dann machten sie sich auf den Weg zu einem Baum, unter dem einige andere Katzen saßen und Malea, die hinterher lief, neugierig beobachteten. Das Frühstück verlief sehr gut und schon bald hatte Malea einen vollen Magen und einige Freunde. Als alle Katzen satt waren, fingen die Ältesten an, eine vielstimmige Melodie zu summen. Malea hörte gespannt zu. Bald setzten die jungen Katzen ein und Malea wurde von einer Welle des Genießens durchspült. Sie schloss die Augen und hörte auf die verschiedenen Stimmen, die zu einem großen Netz zusammengesetzt wurden. Jede Katze hatte mit ihrer Melodie einen eigenen Faden in diesem Netz und wäre unersetzlich. Das kurze Lied verklang und Malea öffnete die Augen. Ein alter Kater mit weißem Fell begann zu sprechen: "Willkommen, Malea. Lune hat mir erzählt, wie ihr euch begegnet seid. Weißt du, wie du hierhergekommen bist?" Er schaute Malea freundlich an. "Nein, tut mir leid, ich weiß es nicht mehr. Ich bin geklettert und auf einmal war alles weg und ich war hier." Malea schaute sich um. Plötzlich fiel ihr etwas ein. "Ich weiß, wo gestern Abend der Baum stand, von dem ich gekommen bin! Ich kann ihn euch zeigen." Der weiße Kater richtete die Ohren nach vorne. "Ein Baum? Na dann, zeig ihn uns." Er stand auf und schaute Malea aufmerksam an. Malea brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Dann lief sie los in die Richtung, in der todsicher die Lichtung mit dem Baum sein musste. Schon nach kurzer Zeit durchquerten sie eine Baumgruppe und betraten die Lichtung. Malea schnaufte ein paarmal, dann suchte sie in der Menge nach dem alten Kater. "Hier ist die Lichtung, wo Lune und ich uns getroffen haben. Und da ist der Baum, über den ich gekommen bin." Sie deutete über ihre Schulter. Der weiße Kater runzelte die Stirn. "Aber da ist nichts. Nur Wiese." Malea drehte sich um. Tatsächlich erstreckte sich nur noch Grasboden bis zum nächsten Waldrand. Die riesige Buche war einfach verschwunden. Malea zog die Augenbrauen zusammen. Das ist doch absurd. Wo soll denn so ein riesiger Baum einfach hin? Sie ging ein paar Schritte weiter in Richtung Mitte der Wiese. "Das verstehe ich nicht. Gestern Abend war sie doch noch hier. So eine große Buche mit ganz eigenartigen Ästen, die wie eine Treppe am Stamm wachsen. Und oben ist es ganz bequem wie in einem Baumhaus und man kann sogar das Haus von Mr. Comy sehen!" Das zu sagen machte sie traurig. Womöglich würde sie das Haus lange Zeit nicht mehr sehen könen, wenn der Baum nicht auftauchte. Enttäuscht drehte sie sich zu Lune um. "Lune, hier stand doch der Baum, oder?" Sie ließ sich in die Wiese fallen und stützte den Kopf auf die Hände. Lune kam näher und stupste Malea zart mit der Schnauze an. "Ja, der stand hier. Aber als du auf dem Boden angekommen warst, hat er sich irgendwie aufgelöst." Sie wandte sich zu dem weißen Kater um. "Sie sagt nichts Falsches. Hier stand eine riesig große Buche. Am besten schauen wir morgen nochmal nach, sonst..." Sie beendete den Satz nicht, aber Malea merkte, wie die Katzen angespannt zuhörten. Es würde auf jeden Fall nichts Gutes sein, was passieren könnte. Malea rollte sich auf den Rücken und hörte, wie die Katzen sich leise davonmachten. Nur zwei Stimmen blieben übrig. "Hats, ich verstehe ja, dass du dir Sorgen machst." Die Stimme gehörte Lune. "Ja, das ist mehr als berechtigt. Erinnere dich doch mal an die Saga. Es ist gefährlich!" Diese Stimme gehörte dem weißen Kater, dem Ältesten und Häuptling der Katzen. "Sie kann nichts dafür. Oder meinst du, sie kommt mit völliger Absicht hierher, deinen Stamm zu zerstören?" Das war die wütende Stimme von Lune. "Natürlich war es nicht ihre Absicht. Sie ist ja wirklich nett, aber trotzdem müssen wir wachsam sein. Du kannst sie hierbehalten, aber sobald es losgeht..." Hats verstummte. Malea spitzte die Ohren und konnte hören, dass sich der leicht hinkende Kater entfernte. Zu ihrer Überraschung näherten sich zugleich leise Schritte. Lune setzte sich neben Malea und stellte ihre Vorderpfoten auf ihren Bauch. Malea öffnete die Augen. "Es ging um mich, oder?" Sie streichelte Lunes Schultern. Lune senkte den Blick. "Hats glaubt an eine alte Prophezeiung, die Saga Lune: Ein Wesen aus einer anderen Welt wird kommen und für eine lange Zeit bei uns leben. Nach zwei Monaten wird immer eine Katze sterben müssen, als Opfer für die Zeit mit dem Wesen, das wir so lieb haben. Das Tor zur Welt dieses Wesens wird geschlossen sein und nur zu einem bestimmten Zeitpunkt wird es einen Ausweg aus diesem Teufelskreis geben. Hats glaubt, dass du dieses Wesen bist und er hat Angst um seinen Stamm."
*** Malea setzte sich auf und nahm Lune auf den Schoß. "Aber das kann doch nicht sein! Es ist doch nur eine Prophezeiung. Die erfüllen sich fast nie." Dennoch war sie beunruhigt. Scheinbar war sie wirklich der erste Mensch hier und wie es bisher aussah, schien das eine andere Welt als die ihrer Heimat zu sein. Sie bekam eine Gänsehaut. Wenn die Saga Lune wahr sein sollte, dann würde schon in zwei Monaten eine Katze sterben. Malea kannte erst wenige der Katzen, trotzdem graute es ihr davor, einer das Leben zu nehmen, sei es Absicht oder nicht. Lune schaute zum Himmel hinauf. Die Sonne schien noch hell und hin und wieder zog eine kleine Wolke vorbei. Nichts deutete auf eine Gefahr hin. Lunes Gedanken wurden von Malea unterbrochen. "Gibt es hier auch anderes Leben als euren Stamm?" Lune musste lachen. "Ja, aber es sind alles entfernte Verwandte von uns. Große mit einer gewaltigen Mähne und solche ohne Mähne, es gibt gestreifte, gepunktete und anders gemusterte Kameraden hier." Malea setzte sich auf. "Also nur Katzen?" Lune knurrte Malea leise an. "Ich weiß doch nicht, was Katzen sind!" Malea wich ein Stück zurück. "Tut mir leid, das habe ich vergessen. Ich meinte, ob es nur Tiere mit Pelz und Schwänzen und vier Beinen hier gibt, die alle die gleiche Sprache sprechen." Dabei kam Malea sich blöd vor. Immerhin hatte sie schon oft von Tiersprache gehört, aber darunter verstand man ja wohl kaum eine Sprache wie die der Menschen. Höchstwahrscheinlich benutzten die Katzen nur Körpersprache. Aber dann kam Malea in den Sinn, dass die Katzen den Mund bewegten und Malea sie verstehen konnte. Lune dachte kurz nach, dann antwortete sie zögerlich. "Nach deiner Beschreibung bin ich eine Katze. Aha, das ist interessant. Ich kann dir ja mal die anderen Genossen zeigen, dann kannst du dir eine Meinung bilden." Malea war mulmig zumute. Mit dem Waisenhaus hatten sie mal einen Zoo besucht und dort eine Raubtierfütterung angesehen. Die Löwen und Tiger waren Malea nicht besonders vertrauenserweckend erschienen. Allerdings wollte sie das Lune nicht zeigen, deshalb sagte sie so beiläufig wie möglich: "Ok, können wir machen." Lune war begeistert und schon am nächsten Morgen zogen sie los. Es dauerte vier Tage, bis sie das Gebiet der Löwen erreichten. Unterwegs ernährte Malea sich von Beeren und Früchten, die sich glücklicherweise als genießbar zeigten. Als Malea endlich die weite Graslandschaft erblickte, wurden ihre Augen riesig groß. Lune ging voran und bahnte den beiden eine schmale Schneise durch das trockene Gras. Notfalls konnten sie auf diese Weise schnell den richtigen Weg zurück finden. Malea entdeckte felsähnliche Buckel im Gras; sie waren etwa 10 Meter entfernt. "Lune, ich glaube, wir haben jemanden gefunden." Jetzt sah auch Lune den ersten Löwen. "Das ist gut. Also eigentlich nur, wenn sie gut drauf sind. Aber ich denke, ein Versuch ist es wert." Sie stolzierte auf die kleine Gruppe zu und Malea ging langsam und vorsichtig hinterher. Die Löwen entpuppten sich als sehr freundlich. (Da sie auch Katzen waren, sprachen sie die gleiche Sprache wie Lune und ihr Stamm.) Malea freundete sich mit einer jungen Löwenmutter an, die sich Mina nannte. Malea und Lune wurden zum Essen eingeladen und Malea freute sich, noch etwas Zeit mit den Löwen zu verbringen. Der Schattenplatz unter einer großen Akazie diente als Treffpunkt. Bald trafen die Löwinnen ein und brachten ihre Jagdbeute zu den Sammelhaufen. Malea hatte sich vorher mit Mina auf den Weg gemacht, um Beeren und essbare Blätter zu sammeln. Die legte sie nun auf ein großes Blatt neben die Fleischhaufen und kehrte mit einem zufriedenen Gesicht zu Lune zurück. Lune nickte anerkennend. "Vielleicht gewöhnen die großen Fleischfresser sich an, auch Beeren zu essen. Dann bleibt mehr gutes Essen für unseren Stamm übrig." Sie meinte es aber nicht ernst, denn als ein halbstarker Löwe angelaufen kam, fing Lune sofort ein lebhaftes Gespräch mit ihm an. Malea aß Beeren und redete mit Mina und ein paar anderen Löwinnen. Nach dem Essen schlug der Anführer des Rudels vor, dass Lune und Malea noch eine Weile bei ihnen bleiben könnten und am Ende des Mondes zurückkehren könnten. Malea war begeistert und da auch Lune nichts einzuwenden hatte, wurden ihnen weiche Schlafstätten aus Gras und duftenden Kräutern bereitet. Glücklich über die gastfreundliche Beherbergung bedankte sie sich überschwänglich bei den Löwen. Eigentlich wollte sie mit Mina die Wanderung der Sterne zum Mond anschauen, aber die Auswirkungen des weiten Weges machten sich bemerkbar. So schleppte Malea sich zu ihrem Lager und schlief schon sehr bald ein. Im Traum wanderte sie wieder mit Lune durch das Grasland, aber statt der Löwen trafen sie schon bald auf Menschen. Sie gingen zu den Männern hin, die gerade ein großes Haus am bauen waren. "Entschuldigen Sie bitte. Was soll das werden?", fragte Malea. Der dickste Bauarbeiter antwortete: "Ein Lager, wo wir die überflüssigen Tiere einfrieren und lagern, um sie in Notzeiten zum Essen zu haben." Malea wurde schlecht. "Sie meinen die Löwen? Wo sind die überhaupt?" Sie schaute sich um. Nirgends war auch nur das geringste Anzeichen des Rudels zu sehen. Der dicke Mann folgte Maleas Blick. "Ja, die meine ich. Die meisten haben wir schon in die normale Welt gebracht, um sie dort weiter zu züchten. Den Rest... wir müssen ja auch was essen. Die Arbeit ist körperlich total anstrengend!" Malea wurde wütend. "Noch nie habe ich so etwas abartiges gehört! Das ist grausam und widerlich! Nehmt doch aus eurer Welt was zum Essen mit!" Dann erst kam ihr in den Sinn, dass diese Männer ja irgendwie hierher gekommen sein müssen. Jemand muss ihnen den Zugang zu diesem Ort verraten haben. Nur wer sollte das wissen? Bisher war noch nie ein Mensch hier gewesen. Clari konnte es nicht wissen. Vielleicht Mr.Comy? Aber dann hätte er die Katzen doch mal besucht. Oder kannte er die Saga Lune und wollte den Stamm nicht in Gefahr bringen? Die Bauarbeiter schleppten weiterhin Steine und Holzbalken zur Baustelle und beachteten Malea und Lune nicht weiter. Lune schaute Malea an. "Das ist nur ein Traum, Malea. Mach dir keine Sorgen." Doch Malea glaubte ihr nicht. Das war zu schlimm, um es zu träumen. Voller Panik suchte sie nach Hinweisen auf das Löwenrudel, doch der Bauarbeiter hatte nicht gelogen. Niemand war mehr da. Mina und ihre Geschwister waren weg, der nette Häuptling... Malea konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie heiße Nadelstiche brannten sie auf ihren Wangen.