Saga Lune Dieses Buch schreibe ich für meine kleine Schwester Lena, die mit mir schon immer ihre Fantasie geteilt und mich somit zur Rolle von Clarissa inspiriert hat. Viel Spaß mit dieser Geschichte, Lena! Vorwort Vor langer Zeit hat ein Mädchen etwas erlebt, was kein Wissenschaftler jemals glauben würde. Dieses Mädchen hieß Malea. Ihre Geschichte ist, glaube ich, die schönste und traurigste Kindheitsgeschichte, die man erzählen kann. Wie ihre Geschichte genau war, erzähle ich euch jetzt. Vorher muss aber gesagt sein, dass Malea wirklich eine riesige Ausnahme war und dass ihr nicht unbedingt die Chance habt, so etwas zu erleben wie sie. In mancher Hinsicht ist das schade, aber während ihres Erlebnisses wurde Malea auch von unschönen Gefühlen wie Schuld und Trauer heimgesucht. Von viel schlimmerer Schuld als wir sie kennen, dabei konnte Malea nichts gegen dieses "Verbrechen" tun. Kapitel 1 Ich sitze schon seit Jahren in diesem Waisenhaus fest. Wo ich vorher war, weiß ich nicht. Solange ich denken kann, lebe ich hier. Das Essen ist grauenhaft und Freizeit haben wir viel zu viel. Keiner weiß was damit anzufangen. Meine Freunde Ricky und Laurie wurden vor drei Wochen von einem Ehepaar adoptiert. Seitdem bin ich alleine. Ich laufe jeden Tag immer nur im Garten des Hauses auf und ab und beobachte die jüngeren Kinder beim Spielen. Manchmal wünschte ich, ich wäre auch noch so klein und unbeschwert, stattdessen bin ich bald dreizehn. Mein Geburtstag wird auf Vollmond fallen. Bei jeder Gelegenheit beobachte ich ihn. Meine Freunde sind weg, Tiere dürfen wir hier nicht haben, und daher habe ich mich an den Mond gewendet. Er nimmt zu und ab und währenddessen erzählt er mir Geschichten, die schöner und einschläfernder sind als die beste Gutenacht-Geschichte. "Malea! Bei drei bist du am Tisch oder du machst heute alleine Küchendienst!" Die Stimme der nervenden Erzieherin reißt mich wieder aus unserem Gespräch. Wie gerne wäre ich jetzt bei einer Familie wie Ricky und Laurie... Das Tagebuch war schon seit langer Zeit Maleas einziger Ansprechpartner. Viele Kinder im Waisenhaus lachten über sie, weil sie mit sich selbst redete. Das dachten zumindest alle. Aber eigentlich redete Malea immer mit dem Mond oder ihrem Tagebuch. Dieses hatte Ricky ihr vor sechs Jahren zum Geburtstag geschenkt und seitdem sprach Malea mit ihm. Sie rannte ins Haus zum Mittagessen. Danach hatte sie mit einem etwas jüngeren Jungen Küchendienst und verbrachte den größten Teil des Nachmittags damit, Teller und Gläser zu spülen. Gegen fünf Uhr am Nachmittag ging sie wieder in den Garten und setzte sich auf die Leiter des Klettergerüstes. Ziemlich lange saß Malea dort und flocht kleine Ketten aus Gänseblümchen. Die letzten Stunden des Nachmittags vergingen im Flug und bald begann es zu dämmern. Der Abend nahte, es gab Abendessen und Malea lag in ihrem Bett und dachte nach. Wie es wohl ist, in so einer Familie? Ach, Mond, ich wünschte, du würdest mir antworten... Es klingelte an der Tür. Malea richtete sich auf und lauschte angestrengt. Eine unbekannte, tiefe Stimme ertönte leise. Jemand unterhielt sich mit der Leiterin des Waisenhauses. Wie erhofft, hörte Malea kurz darauf die Glocke durch das Gebäude schallen, die mögliche neue Eltern ankündigte. Schnell schlüpfte Malea in ihr Sonntagskleid und sprang die Treppe hinunter. Beinahe wäre sie mit dem großen Mann zusammengestoßen, der vorher gesprochen hatte. "Na, junge Dame? Warum so eilig?" Ein amerikanischer Akzent schwang in seiner warmen Stimme mit. Er hatte schwarze Haare, die bereits von vielen silbrig grauen Strähnen durchzogen waren. Seine Haut hatte die beruhigende Farbe von Milchkaffee und seine braunen Augen strahlten eine ungeheuere Wärme aus. "Ähm, entschuldigen Sie bitte.", murmelte Malea kurz und verschwand in der Reihe von Kindern, die sich bereits aufgestellt hatten, um den Mann kennenzulernen. Die Leiterin begann zu sprechen: "Das hier ist Mr.Comy. Er ist aus Amerika gekommen und sucht nach einem oder zwei Kindern, die ihm Gesellschaft leisten wollen, wenn er wieder nach Hause fliegt." Mr.Comy fügte hinzu: "Natürlich bleibt ihr dann bei mir. Ich würde mich über zwei Kinder zuhause freuen." Stille herrschte im Saal. Ein kleines Mädchen räusperte sich vorsichtig. "Ich würde gerne mitkommen nach Amerika. Darf ich mich vorstellen?" Der Mann lächelte herzlich. "Klar kannst du dich vorstellen. Würdest du es denn auch mögen, mit zwei Hunden und einem Adler zusammenzuleben?" Die Augen des Mädchens leuchteten vor Aufregung. "Ja, ich mag Hunde und Greifvögel. Ich heiße Clarissa, am zweiten August werde ich acht und meine Lieblingstiere sind Wölfe. Ich kann auch Flöte spielen." Mr.Comy lachte leise. Er sprach kurz leise mit der Leiterin und wendete sich schließlich wieder den Kindern zu. "Clarissa, du kannst gerne mit mir kommen. Ich möchte gerne noch jemand zweites mitnehmen. Morgen würden wir dann aufbrechen." Scheinbar hatten viele der Kinder Angst vor der weiten Reise. Nur zwei Mädchen hoben die Hand. Mr.Comy verkündete freundlich: "Der Flug nach Amerika dauert ungefähr einen Tag lang und dann fahren wir mit dem Auto noch einen weiteren Tag. Es wird also ein weiter Weg" Eines der Mädchen zog schnell den Arm ein. Das andere Mädchen grinste breit. Malea. "Heißt das, ich kann auch mitkommen?", fragte sie hoffnungsvoll. Mr.Comy lachte kurz. "Ja, kannst du. Ich werde mich um den Papierkram kümmern, ihr könnt gerne schlafen gehen. Morgen wecke ich euch und dann brechen wir auf." Der amerikanische Akzent in seiner Stimme löste eine aufregende Vorfreude in den Herzen der beiden Mädchen aus. Überglücklich machten sie sich auf den Weg in ihre Zimmer. Malea zog schnell wieder den Schlafanzug an und legte sich ins Bett. Ihr Fenster stand offen. Es war Sommer, also wurde es nicht kalt in ihrem Zimmer. Der Mond leuchtete durch das Fenster und traf auf Maleas friedlich lächelndes Gesicht. Mond! Ich habe einen Papa bekommen! Es sah beinahe aus, als würde der Mond lächeln. Mit einem glücklichen Gesicht schloss Malea die Augen. Sie konnte es kaum erwarten, wieder aufzustehen und mit Mr.Comy nach Amerika zu fliegen. Wenn wir dort sind, bekomme ich mein Zimmer und ich kann auf die riesigen Bäume klettern und in den Seen schwimmen und... dann war sie eingeschlafen. *** Der Mond leuchtete noch, als Malea aufwachte. Sofort erinnerte sie sich an den letzten Abend. Ach, Mond? Denkst du, es wird schön bei Mr.Comy? Malea suchte ihre wenigen Sachen zusammen und ging in den Waschraum. Während das warme Wasser über ihr Gesicht floss, summte sie leise eine Melodie vor sich hin. Es würde ihr letzter Tag hier sein. Komischerweise bekam Malea etwas Heimweh nach dem Waisenhaus. Sie versuchte, sich alles genau einzuprägen damit sie sich die Bilder wieder vor Augen holen konnte, wenn sie in Amerika war. Malea seufzte und drehte das Wasser ab. Schnell trocknete sie sich ab und zog ihr Lieblingskleid an. Es war dunkelblau, ging bis knapp übers Knie und der Kragen des Kleides war mit kleinen weißen Stickereien verziert. In wenigen Minuten hatte sie sich fertig gemacht und wartete in der Eingangshalle. Kaum eine Minute war vergangen, da tauchte Mr.Comy auf. "Du bist schon fertig? Das ist gut. Komm, wir wecken Clarissa." Schweigend liefen sie nebeneinander zu Clarissas Zimmer. "Mr.Comy? Gehen Clari und ich in Amerika auch in die Schule? Weil wir können ja gar kein Amerikanisch.", fragte Malea schließlich. Mr.Comy lächelte. "Wenn ihr wollt, kann ich euch Amerikanisch beibringen, dann könnt ihr in die Schule gehen." Sie hatten Clarissas Zimmer erreicht. Nachdem Malea Clarissa vorsichtig geweckt hatte, suchte sie ihr Kleider raus und Clarissa wusch sich. Mr.Comy las gerade eine Zeitschrift, als die beiden Mädchen die Treppen hinuntergestürmt kamen. Sie statteten Frau Schwigel, der Leiterin des Waisenhauses, noch einen Besuch ab, verabschiedeten sich höflich und liefen zu Mr.Comy zurück in die Eingangshalle. Sobald er sie entdeckt hatte, griff er nach den gepackten Koffern der Mädchen und stand auf. "Na dann, machen wir uns auf den Weg!" Malea hielt Clarissa fest an der Hand, als sie hinter Mr.Comy zu dessen Auto liefen. Als sie auf der Rückbank saßen, fragte Clarissa leise: "Mali, denkst du, wir dürfen viel draußen sein bei Mr.Comy? Ich will nicht wieder so eingesperrt sein wie zuhause bei Frau Schwigel." Malea tätschelte beruhigend Clarissas Schulter. "Sicherlich. Er macht einen sehr netten Eindruck und ich glaube, er mag die Natur sehr gerne. Deshalb werden wir wohl viel rausgehen." Mr.Comy bekam von alldem nichts mit, da eine Glasscheibe das Fahrerhaus von der Rückbank trennte. "Ich möchte gerne klettern. Am liebsten auf die ganz großen Bäume, die man immer in den Filmen über Amerika sieht." Malea schaute verträumt durch die getönten Scheiben. Die Häuser flogen vorbei, irgendwann kam nur noch Feld, bis sie wieder eine Stadt erreichten. Nach zehn Minuten drosselte Mr.Comy das Tempo und schließlich hielt der Wagen am Flughafen. Clarissa löste ihren Gurt und öffnete die Autotür. "Schau, Malea! Die riesigen Flugzeuge dort hinten! In so einem dürfen wir auch gleich fliegen!" Malea stieg aus und half Mr.Comy, die Koffer aus dem Auto zu laden. Zu dritt betraten sie schließlich die Fluhafenhalle. Laute Ansagen ertönten aus den riesigen Lautsprechern an den Wänden. Mr.Comy nahm Clarissa an der Hand und hakte sich bei Malea unter. "Ihr müsst immer bei mir bleiben, hier geht ihr schnell verloren, okay?" Sie machten sich auf den Weg zur Fluggastkontrolle. Einer nach dem anderen wurden sie auf Waffen durchsucht, schließlich wurden die Handgepäckstücke geprüft und die Koffer auf großen Wagen zum Flugzeug gefahren. Malea schaute sich neugierig um. "Geht es dort entlang zum Flieger?" Mr.Comy nickte. "Ja, wir warten gleich in einem Raum, bis unsere Ansage kommt. Dann dürfen wir einsteigen." Sie nahmen ihre Taschen und gingen gemächlich in Richtung Warteraum. Nach einer halben Stunde verkündete die angenehme Stimme eine Service-Angestellten, dass die Fluggäste die Maschine betreten dürfen. Im Flugzeug roch es nach Polstern und Duftspray. Leise Musik lief im Hintergrund und ein Steward half den Leuten, ihr Handgepäck in den Ablagen zu verstauen. Junge Damen in schwarzen Röckchen verteilten Reisekaugummi. Die Flugzeugtür schloss sich und eine Durchsage verordnete, die Sicherheitsgurte zu schließen und die Handys für den Start auszuschalten. Malea vertiefte sich in ein Buch über Astronomie, Clarissa schaute interessiert dem Zeichentrickfilm zu, der auf kleinen Bildschirmen für die Gäste abgespielt wurde und Mr.Comy las Zeitung. Hin und wieder erkundigte sich eine Stewardess nach ihrem Befinden aber sonst verlief der Flug ohne besondere Geschehnisse. Irgendwann wurde Malea müde. Sie packte ihr Buch weg und sah aus dem Fenster. Es war schon wieder dunkel geworden. Malea versuchte, sich zu erinnern, wie lange sie schon gelesen hatte. Der Mond stand hoch am Himmel und lächelte Malea zu. Mond! Du bist wieder da! Bald sind wir in Amerika! Ich bin jetzt müde, ich schlafe mal kurz. Aber nicht lange, okay? Schläfrig murmelte sie noch etwas wie "Nur fünf Minuten", aber sie schnarchte schon leise. Mr.Comy schaute kurz herüber, lächelte väterlich und legte Malea eine dünne Wolldecke über die Schultern. Clarissa hatte sich schon ein paar Stunden zuvor auf seinen Schoß gekuschelt und schlief nun an ihn gedrückt. Er setzte sie vorsichtig in ihren Sitz, deckte sie zu und besorgte ihr ein Kopfkissen. Mr.Comy beobachtete seine neuen "Töchter" noch eine Weile liebevoll, dann gab auch er der Müdigkeit nach und schlief ein. Das Flugzeug flog immer noch auf New York zu. Nur noch wenige Stunden und die drei würden wieder aufstehen müssen.